Schlaf ist überbewertet, vor allem wenn du anstatt dessen Community haben kannst.
Von Karina Sturm.
“Ich bin eigentlich nur für den Spaß hier!” Das hatte ich mir gedacht, als ich mich Anfang Oktober entschieden habe, zum ersten Mal in meinem Leben an einer EDS-Konferenz teilzunehmen. Mit der Anreise aus Bayern, der Aussicht auf vier Stunden Zugfahrt – wir wissen alle, wie zuverlässig die Bahn in letzter Zeit ist – und der COVID-bedingten Bedenken, verbrachte ich eine lange Zeit damit, die möglichen Vorteile und potentiellen Risiken abzuwägen. Gerade weil ich dank EDS bereits mit einer milden Angstsymptomatik lebte, war der Gedanke daran, mit zig anderen Menschen (zum ersten Mal seit der Pandemie) in einem geschlossenen Raum Stunden zusammen zu verbringen, nicht ganz so verlockend. Zusätzlich fragt man sich: Schaffe ich das körperlich? Ist es den Aufwand wert, wenn ich danach tagelang gar nichts mehr machen kann? Denn wie wir alle wissen, sind für Menschen mit EDS die Sorgen rund um die Pandemie nur ein kleiner Teil dessen, womit wir tagtäglich zu tun haben. Doch in diesem Jahr waren die Vorraussetzungen für mich besser denn je, denn immerhin lebe ich mittlerweile wieder in Deutschland – die Anreise aus San Francisco wäre dann doch ein bisschen zu weit gewesen – und es war klar: Jetzt oder nie.
Von Neumarkt aus ging es am 22. Oktober los in Richtung Berlin und schon während der Zugfahrt ging der ‘Spaß’ los – nicht. Ganz EDS-konform, um die Gelenke zu schonen, mehr Platz zu haben und auch tatsächlich einen Sitzplatz zu ergattern, buchte ich ein Erste-Klasse-Ticket, aber wegen des Sturms am Tag zuvor, wurde nicht nur ein Abteil ausgetauscht, sondern gleich der ganze Zug und natürlich fehlte mein kompletter Wagon. Der einzige freie Sitzplatz fand sich natürlich neben einem überzeugten Maskengegner. Trotzdem gab es auch immer wieder was zu Lachen. Mit einem voll gepackten Zug war der neue running gag bei jedem zusteigenden Gast: “Nope, sorry, Wagen 10 gibt’s heute nicht!” Und das führte immer wieder zu gemeinschaftlichen Lachanfällen, Kopfschütteln und einem Raunen: “Ach ja, Deutsche Bahn.”
Vier Stunden später endlich in Berlin angekommen, lande ich beim einzigen Taxifahrer, der mir nachdem ich erzählt hatte, was der Grund für meinen Besuch im Christophorusstift ist, erklärt hat, dass ich doch keine Schmerzen haben kann, weil man das sehen müsste. Und manchmal weiß ich nicht, ob ich wirklich zum hundertsten Mal erklären will, dass das Quatsch ist. Aber wie meistens gewinnt die Hoffnung, dass jede Person, die aufgeklärt wird, letztlich der Community hilft. Ich versuchte also zu erläutern, dass Menschen mit EDS schon ihr ganzes Leben lang drastische Schmerzen haben und man so an eine Baseline von Schmerz gewöhnt ist und außerdem ziemlich geübt im ‘Überspielen’ sind. Wirklich überzeugt war er am Ende nicht; für mich ein Beweis mehr dafür, warum Veranstaltungen wie diese jährliche Konferenz der Ehlers-Danlos Initiative in Berlin so wichtig sind.
Abends hat sich mein Motto “nur zum Spaß hier” direkt erfüllt, obwohl ich so nervös war, mit Leuten zu sprechen – ich teile mein Leben zwar online, aber trete selten aktiv mit anderen in Kontakt, weil die Menschen mit EDS oft über meine Arbeit auf mich zukommen, was viel einfacher für mich ist, als selbst jemanden anzusprechen. Zu meiner Überraschung musste ich das aber ohnehin nicht, weil ich mein Gesicht mittlerweile so weit über das Internet verstreut habe, dass einige der Teilnehmer der Konferenz schnell auf mich zukamen und sagten: “Hey, du bist doch die Karina!” “Uff”, dachte ich, “schön nicht den ersten Schritt machen zu müssen.” Tatsächlich gestaltete sich der Spaßteil ziemlich leicht, denn kurz nach meiner Ankunft lernte ich eine ganz liebe Mitbetroffene kennen, mit der ich am anschließenden Abend aus Versehen bis 2 Uhr morgens quatschte. Wir waren die Letzten, die ins Bett gingen – man hat halt so viel gemeinsam und da entstehen die Gespräche ganz wie von selbst. (30 oder 40 Jahre Krankengeschichte in einen Abend mit ein paar Gläsern Wein zu packen, ist auch gar nicht so easy.) Überzeugt davon, dass es niemals später als 23.30 Uhr sein könnte, weil wir beide eigentlich selten überhaupt die Energie haben nach 22 Uhr noch vom Sofa aufzustehen, waren wir dann doch ein wenig schockiert, dass wir so lange durchgehalten hatten.
Nach nur sechs Stunden Schlaf – macht nichts, das Bett war ohnehin bisschen zu weich – und mit diversen Rücken-, ISG-, Schulter-, Hüft- und na-ihr-wisst-schon-was-alles-für-Schmerzen kroch ich aus dem Bett, denn an diesem Samstag sollte es erst richtig los gehen – während ich eigentlich schon bereit zur Abreise gewesen wäre, also körperlich. Zwei Kaffees später ging es dann mit dem Rahmenprogramm los. Mit unterhaltsamen und informativen Vorträgen von unter anderem Dr. Frederike Müller und einer spannenden Paneldiskussion mit diversen deutschen Expert:innen, waren die rund 40 Teilnehmer:innen den ganzen Tag gut beschäftigt. Aber again, das war für mich und viele andere nicht der Grund, warum wir wirklich dort waren. Also nichts gegen gute Vorträge von qualifizierten Ärzt:innen, doch für mich war der zentrale Punkt ein anderer: Community.
Da waren 40 Menschen, die einfach verstehen, ohne zu urteilen.
40 Menschen, mit denen man über “Arschexplosionen” beim Essen sprechen kann und keiner guckt doof.
40 Menschen, von denen keiner sagt: “Aber man sieht ja gar nicht, dass du krank bist.”
40 Menschen, bei denen man manchen das EDS und die Behinderung ansieht und anderen nicht. Das spielt aber keine große Rolle, weil wir uns alle vorstellen können, wie es dem Gegenüber geht.
Und das ist, was ich meinte mit: Ich bin hier für den Spaß. Für mich bedeutet Spaß, dass ich einfach mal alle Schutzwälle fallen lassen kann. Dass ich ich sein kann und das EDS und alle meine Besonderheiten wegen EDS ein einziges Mal zur Norm gehören; dass keiner mich krumm anschaut und wir unsere ganz eigene kleine Welt haben, in der nur wir die insider jokes verstehen und gemeinsam darüber lachen können. Ja, Community eben. Einmal wirklich dazu gehören. Wie schön wäre es, wenn das immer so sein könnte!
Dieser Beitrag war Teil der Vereinszeitung der Ehlers-Danlos Initiative e. V. vom Dezember 2021.
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