Mit Tourette leben
von Cindy Vernickel.
Wenn die meisten Menschen Tourette hören, denken Sie gleich an Schimpfwörter und durchgehende Bewegungen. Das ist nicht ganz richtig, denn Tourette ist so viel mehr. Viele Leben mit Tourette ohne es zu wissen. Um euch das Tourette-Syndrom ein bisschen näher zu bringen, möchte ich euch einen kleinen Einblick in mein Leben geben.
Die ’Tics’
Ich lebe mittlerweile seit meinem sechsten Lebensjahr mit Tourette. 1992 traf die Erkrankung mich ganz unerwartet. Plötzlich war Nichts, aber wirklich gar nichts, mehr so wie es zuvor war. Mein Körper veranstaltete Dinge mit mir, die ich nicht wollte und über die ich keine Kontrolle hatte. Ich quietschte vor mich hin – mal lauter, mal leiser – bis dieser komische Druck in meinem Kopf, den ich verspürte, verschwand. Meine Bauchmuskeln zuckten, mir war dauernd schlecht, ich konnte nicht mal mehr auf dem Schoß meiner Mutter sitzen. Jede Freude, jede Wut, jede Trauer wurde zu einem Alptraum. Das Ding in mir hasste Emotionen, es hasste Veränderung, es hasste eigentlich alles.
Umso mehr Stress ich hatte, umso mehr stieg der Druck im Kopf.
Ich schrie komische Töne aus, die eigentlich gar keine Bedeutung hatten und hatte immer den Drang, was in die Hand zu nehmen. Außerdem wurde ich schnell emotional und verstand mich selber nicht mehr. Meine Kinderärztin meinte, ich hätte nur eine leichte Ticstörung, die von alleine vorbei gehen würde und das alles wäre vielleicht nur eine Phase.
Als wir 1993 umzogen, verschlimmerten sich die Tics.
Ich fing nun auch an Angststörungen zu entwickeln. Das kleine tapfere Mädchen, das ich mal war, gab es nicht mehr. Von nun an wurde jede Blutabnahme für Ärzte, Schwestern, meine Mutter und mich zu einer großen Herausforderung. Ich bekam Panikattacken vor der neuen Schule und hatte Angst vor dem Weg nach Hause.
Ich hatte auch einen Hauch von Perfektionismus.
Wenn ich mir was merkte oder mich für was interessierte, dann aber richtig. Ich lernte seit der 2. Klasse die Melodika und Monate später das Akkordeon zu spielen und während alle Kinder mit dem Notenlesen Schwierigkeiten hatten, brauchte ich die Lieder nur zweimal spielen oder hören und konnte alles auswendig. Ich hing an den Lippen der Lehrer und konnte Wort für Wort wiedergeben. Gesichter, Gerüche, Geräusche – alles prägte ich mir ein. Das habe ich Monsieur Tourette zu verdanken. Nur dass er in mir lebte, das ahnte zu dem Zeitpunkt noch lange keiner.
Die Tics verärgerten meine liebsten Menschen.
Was haben wir nicht alles versucht, um die Tics in den Griff zu kriegen. Stellte man mir die Frage, warum ich das alles machte, reagierte ich entweder zickig, ignorierte denjenigen oder sah ihn einfach nur schweigend an, weil es mir so unangenehm war, über meine Tics zu sprechen. Wenn ich ein Geräusch machte, fühlte ich mich wie befreit. Ich konnte plötzlich wieder durchatmen, hatte für ein paar Sekunden keinen Druck mehr im Kopf und konnte mich konzentrieren. Aber wie erklärt man diese Gefühle seinen Mitmenschen? Wie erklärt man, dass man diese Tics nicht aushalten kann?
Ich lernte mit der Zeit meine Tics in der Öffentlichkeit zu kontrollieren.
Sport half mir dabei immer. Meine Klassenkameraden bekamen kaum was von meinem Tourette mit. Und wenn, dann nutzte ich die Ausrede ”Ich hab’ Schluckauf”. Doch kaum war ich dann Zuhause, brach das ganze Tourette aus mir heraus. Ich musste so lange quietschen bis mein Gehirn befriedigt war.
Privat konnte ich die Tics nicht verbergen.
Mittlerweile war meine Familie nicht nur genervt, sondern auch fix und fertig. Ich war 18 Jahre alt und keine Besserung war in Sicht. Viele meiner Freunde fragten meine Mutter, warum ich mich so benahm und ob ich vielleicht auf Drogen sei. Einmal hörte ich ein Gespräch mit, bei dem sich ein Familienfreund sogar über mich lustig machte. Und desto emotionaler meine Stimmung wurde, umso schlimmer wurde das Tourette. Machte mich jemand nach, zwang mich mein Gehirn dasselbe zu tun. Ich war eine Marionette meines Körpers. Gefangen im eigenen Körper.
Das Tourette-Syndrom wollte ich lange nicht akzeptieren.
Denn immer wenn in den Medien darüber berichtet wurde, sah man nur die krassen Fälle, die Tourette-Erkrankte als böse darstellten; als Menschen, die nur beleidigende Worte herausbrüllten oder komische Gesichtszüge machten. Ich konnte mich mit ihnen überhaupt nicht identifizieren. Irgendwann sah ich eine Reportage, in der eine Ärztin erklärte, dass man Tourette leider nicht im MRT, aber durch Beobachtung mittels Videoaufnahme erkennen könne. So habe ich mich 2017 zum ersten Mal selbst gefilmt. Ich war zutiefst erschrocken, was ich meinen Mitmenschen die ganze Zeit damit antat.
Ich recherchierte im Internet.
Und je mehr ich recherchierte, desto mehr sah ich mich selbst in der Diagnose Tourette. Doch wem vertraue ich mich an? Ich hatte Angst, dass man mich auslachen würde oder noch schlimmer, dass meine Mitmenschen nichts mehr mit mir zu tun haben wollen würden. Tourette wird in den Medien nicht ernst genommen und ständig nur belächelt. Dumme Sprüche über Tourette kursieren in sozialen Netzwerken und schaden uns Betroffenen extrem. Aber Tourette ist so viel mehr als nur Schimpfwörter und Bewegungen. Kaum jemand weiß das, oder will das wissen.
Erst mit 31 Jahren brach ich mein Schweigen.
Nach einem stressigen Krankenhausaufenthalt, während dessen ich über Tage meine Tics zu kontrollieren versuchte, brach es – wieder zuhause angekommen – aus mir heraus und ich hatte meinen ersten heftigen Tourette-Anfall. Ich schrie lautstark und machte meiner Oma damit wahnsinnige Angst. Natürlich verstand niemand, welchen höllischen Kampf ich mit mir selbst austrug. Da wurde mir klar, so konnte es nicht weitergehen. Ich beschloss mit einem Professor zu sprechen, dem ich vertraute. An dem Tag, an dem ich mein Schweigen brach, wollte der Professor mir erst nicht glauben. Mit meinem Video konnte ich die Anfälle jedoch beweisen und nach und nach unterstützten mich die Mediziner.
Vor einem Jahr intensivierten sich meine Tourette-Anfällen.
Ich quietschte in einem leeren Raum serienhaft, stürzte zu Boden – mein Körper wild um sich schlagend. Da lag ich dann verletzt und mein Körper machte mit mir, was er wollte. Diese Anfälle häuften sich und so blieb mir keine andere Wahl als mit all den Menschen zu reden, die mir nahestanden. Da war sie wieder: die Angst missverstanden zu werden. Aber es kam völlig anders.
Meine Lieben verstanden mein Tourette.
Und mit der Zeit fand ich eine Selbsthilfegruppe für Tourette-Betroffene und lernte viele liebe Menschen kennen, die mit den selben Problemen wie ich kämpften. Wir sprachen über unsere Ängste, gaben uns Ratschläge und haben immer ein offenes Ohr füreinander. Endlich fühlte ich mich nicht mehr alleine und ich wurde ernst genommen. Ich lernte immer mehr mich zu öffnen, Leute aufzuklären und mich so zu akzeptieren, so wie ich eben bin. Und erst dann können wir erwarten, dass wir auch von anderen Menschen akzeptiert werden.
Viele nützliche Informationen habe ich auf der Seite https://Tourette-gesellschaft.de gefunden.
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