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Interview mit Dr. Pradeep Chopra über die psychologischen und psychiatrischen Aspekte der Ehlers-Danlos-Syndrome und Hypermobility Spectrum Disorders

Ein Foto von Dr. Chopra, ein Mann mit kurzen braunen Haaren und einer Brille. Daneben ist ein Bild von Karina, einer Frau mit kurzen braunen Haaren und blattförmigen Ohrringen. Folgend ist das Logo von EDS Awareness. Text: Interview, Dr. Chopra & Karina Sturm, Psychological aspects of EDS - Dr. Chopra's Statement explained.

Einführung

Der EDS-Experte und Schmerzspezialist Dr. Pradeep Chopra wandte sich an Chronic Pain Partners, um über einen kürzlich veröffentlichten Review zu den psychologischen und psychiatrischen Aspekten der Ehlers-Danlos-Syndrome zu sprechen. Dr. Chopra behandelt seit Jahrzehnten Patient*innen mit komplexen Schmerzen, insbesondere Menschen mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom, und ist ein leidenschaftlicher Fürsprecher für EDS- Patient*innen auf der ganzen Welt. Heute bespricht die Journalistin Karina Sturm mit Dr. Chopra einige der Hauptaussagen des Reviews.

Zusammenfassung

Karina Sturm:

Hallo Dr. Chopra, und vielen Dank, dass Sie heute mit mir sprechen. Sie haben Chronic Pain Partners kontaktiert, um mit uns über Ihre Meinung zu diesem kürzlich veröffentlichten Bericht sprechen: Bulbena-Cabré, A., Baeza-Velasco, C., Rosado-Figuerola, S. und Bulbena, A., 2021, Dezember. Updates on the psychological and psychiatric aspects of the Ehlers–Danlos syndromes and hypermobility spectrum disorders. In American Journal of Medical Genetics Part C: Seminars in Medical Genetics (Vol. 187, No. 4, pp. 482-490). Hoboken, USA: John Wiley & Sons, Inc. 

Können Sie mir eine kurze Zusammenfassung Ihrer Meinung zu diesem Papier geben?

Dr. Pradeep Chopra:

Ich bin besorgt darüber, dass dieses Papier die psychologischen und psychiatrischen Aspekte von EDS/HSD diskutiert, während es meiner Meinung nach fraglich ist, ob es wirklich einen Zusammenhang zwischen EDS und psychischen Erkrankungen gibt. Und wenn psychische Erkrankungen bei Patient*innen mit EDS auftreten, unterscheiden sich die von denen in der Nicht-EDS-Population? Sind psychische Erkrankungen bei EDS-Patient*innen tatsächlich häufiger als bei Nicht-EDS-Patient*innen? Daran habe ich meine Zweifel. Und ich befürchte, dass dieses Papier zum Nachteil von Menschen mit EDS verwendet werden wird.

Die wichtigsten Punkte des Papiers

Karina Sturm:

Ok, lassen Sie uns beginnen und ein wenig über einige der wichtigsten Punkte sprechen, die die Autor*innen anführen. Zunächst möchte ich unseren Leser*innen jedoch einen kurzen Überblick über den wissenschaftlichen Publikationsprozess geben. Es gibt verschiedene Arten von Arbeiten, die man veröffentlichen kann. Wissenschaftler*innen können zum Beispiel Experimente durchführen und die Ergebnisse ihrer Forschung veröffentlichen, oder sie führen eine Umfrage durch und veröffentlichen die Antworten. Diese werden als Forschungsartikel betrachtet. Wissenschaftler*innen können aber auch die gesamte Literatur zu einem bestimmten Thema zusammenfassen, ohne selbst zu forschen; das wäre dann ein sogenannter Review-Artikel. Und dann gibt es noch Meinungsartikel, die nur auf den eigenen Ansichten der Autor*innen beruhen. All diese Arbeiten werden in akademischen Fachzeitschriften veröffentlicht – einige dieser Zeitschriften sind besser als andere. Akademische Arbeiten werden in der Regel von Fachkolleg*innen “reviewed”. Das bedeutet, dass andere Forscher*innen die Arbeit lesen und kommentieren und dann entscheiden, ob sie veröffentlicht werden soll oder nicht.

Bei der Arbeit, über die wir heute sprechen, handelt es sich um einen Review, der das aktuelle Wissen über EDS und psychiatrische Erkrankungen zusammenfasst. Um dies zu erreichen, haben die Autor*innen eine Literaturrecherche durchgeführt. Sie verwendeten Wörter wie „EDS“ und „Anxiety“ als Suchbegriffe in speziellen Suchmaschinen für medizinische und wissenschaftliche Literatur (z. B. PubMed) und fassten dann zusammen, was sie in diesen Veröffentlichungen fanden. Im Jahr 2017 veröffentlichten die Autor*innen ein Review zum selben Thema, und jetzt aktualisieren sie diese frühere Übersichtsarbeit. Lassen Sie uns nun über einige der Aussagen in dem Papier sprechen.

Die Autor*innen erklären: „Neue Forschungsergebnisse haben bestätigt, dass Angststörungen bei Patient*innen mit EDS sehr häufig sind (Bulbena-Cabré & Bulbena, 2018).“ Die Autor*innen sprechen über den Zusammenhang zwischen EDS und Angst (und später Depression), insbesondere im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen. Das Auftreten von Angstzuständen bei chronischen Schmerzen ist in der medizinischen Welt weithin anerkannt, oder? Es ist allgemein bekannt, dass chronische Schmerzen zu Depressionen und Angstzuständen führen können. Können Sie unseren Leser*innen erklären, warum Sie glauben, dass Menschen mit EDS Anzeichen von Angst und/oder Depression entwickeln können?

Dr. Pradeep Chopra:

Lassen Sie uns zunächst über die neuen Forschungsergebnisse sprechen, die in dem Artikel erwähnt werden. Ich habe mir die zitierte Arbeit angesehen, und es gibt leider keine neuen Forschungsergebnisse. Außerdem handelt es sich bei beiden Arbeiten, der neuen und der, auf die sie sich beziehen, um Meinungsäußerungen und nicht um Reviews. Es sind keine Fakten. Lassen Sie uns nun über Angstzustände bei Menschen mit EDS sprechen. Meiner Meinung nach gibt es zwei Arten von Ängsten bei EDS: 1. Normale Angst: Diese Angst entwickelt sich zum Beispiel, wenn eine Person ein ständig subluxierendes Knie oder einen subluxierenden Ellbogen hat, und diese Person hat Schmerzen und ihre Lebensqualität ist eingeschränkt. Das verursacht eine gewisse Angst. Das ist normal. 2. Die Symptome der Dysautonomie können aussehen wie Angsterkrankungen, haben aber eine organische Ursache, nämlich einen Anstieg der Herzfrequenz und des Adrenalinspiegels. Einige Komorbiditäten von EDS, wie Dysautonomie, können mit psychischen Erkrankungen verwechselt werden, haben aber einen organischen Ursprung.

Dies ist ein Problem, das ich mit dem Papier habe: Es befasst sich nicht mit Symptomen und Erkrankungen, die mit EDS einhergehen, wie MCAS, Dysautonomie, Wirbelsäulenproblemen und andere. Diese Studie sollte also auch untersuchen, wie viele ihrer Patient*innen mit Angstzuständen tatsächlich Dysautonomie und nicht Angstzustände haben.

Ein weiteres Problem, das ich mit dieser speziellen Aussage habe, ist, dass die Studie nur pathologische Ängste betrachtet, aber Ängste als normale Folge von chronischen Schmerzen und Luxationen ignoriert. Aus meiner Erfahrung bei der Behandlung von 800 EDS-Patient*innen kann ich sagen, dass die Patient*innen vielleicht etwas Angst im Zusammenhang mit ihren chronischen Schmerzen empfinden, aber das ist nicht signifikant.

Karina Sturm:

Ich habe die Publikation gelesen, die die Autor*innen im vorherigen Zitat oben erwähnt haben (Bulbena-Cabré, A. und Bulbena, A., 2018. Anxiety and joint hypermobility: an unexpected association. Current Psychiatry, 17(4), pp.15-21.), die als meist akzeptierte Hypothese – ein sehr starker Begriff – für den Zusammenhang zwischen Gelenkhypermobilität und Angst vorschlägt: „Genetische Risiken, interozeptive Sensibilität, somatosensorische Verstärkung, Unterschiede in der Emotionsverarbeitung, Dysfunktion des autonomen Nervensystems“. Im folgenden Absatz weisen sie sofort darauf hin, dass ihr erster Punkt, die genetischen Risiken, umstritten ist, weil die Forschung die genetischen Befunde nicht replizieren konnte, was verwirrend ist, da dies als die „am meisten akzeptierte biologische Hypothese“ angegeben wird. Was ist Ihre Meinung dazu?

Dr. Pradeep Chopra:

Nun, man sollte in der Lage sein, Ergebnisse zu beweisen. Wenn man zum Beispiel sagt: „Die Haare eines Brillenträgers werden dienstags grün“, dann sollte jemand in Frankreich oder Deutschland oder sonst wo in der Lage sein, dieses Ergebnis genauso wiederzugeben. Wenn man das nicht nachweisen kann, ist es wahrscheinlich nicht wahr.

Karina Sturm:

Die Autor*innen sagen auch: „Baeza-Velasco, Sinibaldi und Castori (2018) untersuchten auch niedrig und hoch ängstliche Menschen mit hEDS und fanden heraus, dass diejenigen mit hoch ängstlichem hEDS ein höheres Maß an Schmerzkatastrophisierung, somatosensorischer Verstärkung (SSA) sowie ein schlechteres soziales Funktionieren und einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand zeigten.“ Bei der zitierten Studie scheint es sich um einen weiteren Übersichtsartikel zu handeln. Und obwohl vielleicht irgendwo in dem Review auf die eigentlichen Studienergebnisse verwiesen wird, wäre es mir lieber, wenn Sie mir erklären würden, was sie mit dieser Aussage meinen.

Dr. Pradeep Chopra:

Diese Arbeit wurde 2018 veröffentlicht, und ich bin mir nicht sicher, woher sie die Terminologie „niedrig“ und „hoch“ ängstlich haben. Ich habe viele Patient*innen gesehen, aber ich würde sie nicht in niedrig oder hoch ängstlich einteilen, denn es gibt Phasen, in denen eine Person hoch ängstlich oder niedrig ängstlich ist, aber es liegt nicht in der Natur von EDS, hoch oder niedrig ängstlich zu sein. Lassen Sie uns nun über Schmerzkatastrophisierung sprechen. Dieser Ausdruck bedeutet, dass die Betroffenen ihre Schmerzen stärker einschätzen, als sie tatsächlich sind, dass sie ihre Schmerzen „dramatisieren“. Wenn ein/e Patient*in in meine Praxis kommt, erkläre ich ihr/ihm meine drei Regeln, von denen die erste lautet, dass sie/er über ihre/seine Schmerzen klagen muss. Normalerweise schauen meine Patient*innen sehr verwirrt, wenn ich das sage, und sie fragen: „Sie wollen wirklich von meinen Schmerzen hören?“ Denn die meisten Menschen mit EDS sprechen nicht über ihre Schmerzen; sie spielen ihre Schmerzen herunter. Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist, dass viele von ihnen mit Schmerzen geboren wurden. Zweitens wurden sie jedes Mal, wenn sie sich über ihre Schmerzen beschwerten, schlecht behandelt, so dass sie es einfach nicht mehr tun. Die Behauptung, Menschen mit EDS würden ihre Schmerzen als katastrophal darstellen, ist also absolut falsch. Es ist genau das Gegenteil der Fall: Patient*innen mit EDS spielen ihre Schmerzen herunter.

Jetzt kommen wir zur somatosensorischen Verstärkung, was ein anderes Wort für zentrale Schmerzsensibilisierung ist. Auch das trifft normalerweise nicht auf EDS zu, denn das ist etwas, was Menschen nach einer Verletzung entwickeln. Es bedeutet, dass der Schmerz nicht verschwindet, obwohl die Verletzung geheilt ist.

Der nächste Punkt ist das „schlechte soziale Funktionieren“, das ebenfalls nicht auf psychische Probleme zurückzuführen ist. Es ist eine Folge von schwächenden Symptomen wie Benommenheit, Schwindel, Herzrasen und vielem mehr. Es ist nicht so, dass sie nicht mehr ausgehen wollen. Sie wollen sehr wohl. Aber wenn sie es tun, verschlimmert sich ihr Zustand. „Schlechtes soziales Funktionieren“ ist also keine Folge von Angstzuständen. Es ist eine Folge von körperlichen Symptomen und Schmerzen.

Das Statement von Dr. Chopra zum Thema psychologische Aspekte der Ehlers-Danlos-Syndrome in der deutschen Übersetzungen kann HIER gelesen werden.

Karina Sturm:

Ein Satz, den ich nicht ganz verstanden habe, bezieht sich auf die Forschung zu Menschen auf dem Autismusspektrum und EDS. In dem Papier wird eine Studie erwähnt, in der Menschen mit Autismus mit und ohne EDS verglichen werden. Bei der erwähnten „Studie“ handelt es sich nicht um eine von Expert*innen begutachtete Veröffentlichung. Es handelt sich um einen Vorabdruck aus dem Jahr 2019, in dem eine Umfrage durchgeführt und die Teilnehmer*innen über Reddit eingeladen wurden, und ich konnte sie in keiner Zeitschrift finden. (Casanova, E.L., Sharp, J.L., Edelson, S.M., Kelly, D.P., Sokhadze, E.M. und Casanova, M.F., 2020. Immune, autonomic, and endocrine dysregulation in autism and Ehlers-Danlos syndrome/hypermobility spectrum disorders versus unaffected controls. Journal for ReAttach Therapy and Developmental Diversities, 2(2), S. 82-95). In dieser Veröffentlichung heißt es, dass die Gruppe mit EDS auch mehr Autoimmunerkrankungen und hormonell-bedingte Schmerzen wie Schmerzen während der Menstruation hatte. Die Autor*innen kommen dann zu dem Schluss, dass dies „die ätiologische Beziehung zwischen ASD und GJH untermauern würde“. Ich verstehe diese Schlussfolgerung nicht. Können Sie das erklären?

Dr. Pradeep Chopra:

In Vorbereitung auf dieses Interview habe ich mir alle Studien über EDS und Autismus angesehen. Wenn man einen Zusammenhang erforscht, muss man die Häufigkeit von Autismus mit der Häufigkeit von Autismus und Gelenkhypermobilität vergleichen, um zu sehen, ob es wirklich einen Unterschied gibt. Und ich habe keinen Unterschied in den Statistiken gefunden. Menschen mit Autismus haben einen niedrigeren motorischen Tonus. Das ist eine bekannte Tatsache, aber das ist nicht vergleichbar mit Gelenkhypermobilität. Meiner professionellen Meinung nach kann ich also im Moment keinen Zusammenhang erkennen. Und was die Autoimmunerkrankungen angeht, so ist bekannt, dass sie Menschen mit EDS betreffen, aber das hat nichts mit Autismus zu tun und unterstreicht auch nicht den Zusammenhang zwischen EDS und Autismus.

Karina Sturm:

Und eine weitere Schlussfolgerung, der ich nicht folgen konnte, war die Verbindung zwischen EDS und Essstörungen. In dem Papier heißt es: „[…] ein Modell für Essstörungen vorgeschlagen, das darauf hindeutet, dass mehrere intra- und extraartikuläre Merkmale wie Magen-Darm-Probleme, Kiefergelenksbeschwerden und Nahrungsmittelunverträglichkeiten zur Entwicklung und Aufrechterhaltung eines gestörten Essverhaltens und eines signifikanten Gewichtsverlusts bei JHS/hEDS beitragen könnten.“ Der Begriff „Essstörung“ ist definiert als „eine Reihe von psychologischen Störungen, die durch abnormale oder gestörte Essgewohnheiten gekennzeichnet sind (z. B. Anorexia nervosa)“. Dies ist die Definition, die Google in Zusammenarbeit mit dem Oxford Dictionary gefunden hat. Inwiefern werden also Gewichtsprobleme, die durch Kiefergelenksprobleme oder Probleme des Verdauungstrakts verursacht werden, als Essstörungen eingestuft? Das Gleiche gilt für Schlafstörungen, bei denen als Hauptursache obstruktive Schlafapnoe genannt wird, die meines Wissens eine sehr häufige körperliche Ursache für Schlafstörungen bei EDS ist. Können Sie mir das erklären?

Dr. Pradeep Chopra:

Ja, das waren äußerst verwirrende Absätze, und ich bin überrascht, dass die Herausgeber der Publikation das nicht bemerkt haben. Das Problem ist, dass diese ganze Arbeit durch eine psychiatrische Brille betrachtet wird. Sie sprechen davon, dass Menschen mit EDS Essstörungen haben, was psychiatrische Erkrankungen sind, aber dann sagen sie, dass Menschen mit EDS Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt und dem Kiefergelenk haben – alles körperliche Erkrankungen. Für den Laien ist das sehr verwirrend. Denn einerseits sagen sie, dass Menschen mit EDS ein psychologisches Problem haben, nämlich eine Essstörung, und gleichzeitig sagen sie, dass die Essstörung durch körperliche Begleiterscheinungen von EDS verursacht wird. Es wird also nicht klar gesagt, dass Essstörungen und die EDS-Komorbiditäten, z. B. Kiefergelenk, unterschiedliche Erkrankungen sind. Ich persönlich habe noch keine einzige EDS-Person mit einer Essstörung gesehen. Allerdings können Patient*innen mit EDS mehr als 20 Erkrankungen haben, die das GI-System betreffen. Für mich würde der Nachweis, dass eine Person eine Essstörung hat, bedeuten, dass alle diese Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts ausgeschlossen sind. Meine Sorge ist, dass aufgrund dieses Papiers EDS-Patient*innen mit GI-Problemen, die jetzt zu GI-Ärzt*innen gehen, ihre GI-Probleme als Essstörung abgetan werden. Infolgedessen erhalten sie möglicherweise keine angemessene Behandlung.

Karina Sturm:

Soweit ich weiß, werden in einem Review normalerweise verschiedene Ergebnisse aus Originalquellen in einen Kontext gestellt, oder? Wenn man also eine Übersichtsarbeit schreibt, muss man wirklich aufpassen, dass man nicht Fakten mit Interpretationen und Spekulationen verwechselt. Würden Sie diese Arbeit als Literaturübersicht (also als Review) betrachten? Glauben Sie, dass es klar ist, was die ursprüngliche Forschung ist und was die Interpretation der Autor*innen ist?

Dr. Pradeep Chopra:

Meines Erachtens wird diese Arbeit als Review bezeichnet, aber es scheint, als ob sie hauptsächlich aus Meinungen besteht. Im Allgemeinen werden jeden Tag viele Arbeiten von schlechter Qualität veröffentlicht, und es ist für Leser*innen sehr schwer, eindeutig zwischen Meinung und Rezension oder guten und schlechten Arbeiten zu unterscheiden.

Konsequenzen des Papiers

Karina Sturm:

Als eine Art neue Idee schlägt das Papier den „neurokonnektiven Phänotyp“ vor, der auch schon in früheren Papieren erwähnt wurde. Es ist im Grunde ein Bewertungsinstrument, das aus fünf Bereichen besteht: Sensorische Sensibilität, körperliche Anzeichen, psychologische und psychopathologische Dimensionen, Verhaltensdimensionen und somatische Erkrankungen. Der Schwerpunkt dieses „Instruments“ scheint sehr stark auf psychiatrischen Symptomen zu liegen. Am Ende des Berichts heißt es, dass solche neuen Instrumente nicht nur „den Patient*innen helfen, ihre Krankheit besser zu verstehen, sondern auch neue Möglichkeiten bieten, die biologischen Grundlagen dieser Störungen zu erforschen und möglicherweise aufzudecken.“ Können Sie erläutern, was dies bedeutet und welche Konsequenzen Sie für die Patient*innen befürchten?

Dr. Pradeep Chopra:

Der Begriff „neurokonnektiver Phänotyp“ wurde eigentlich von den Autor*innen erfunden und beschreibt nicht wirklich viel. Aber das ist nicht das, was mich am meisten beunruhigt. Ich denke, dass diese ganze Veröffentlichung falsch interpretiert werden wird. Ich fürchte, sie wird gegen Menschen mit EDS verwendet werden. Ich bin besorgt, dass Ärzt*innen, Berufsunfähigkeitsversicher*innen und viele andere sie dazu benutzen werden, die EDS-Symptome herunterzuspielen. Ich befürchte, dass man Menschen mit EDS nicht mehr glauben wird. Einige Anwält*innen und Ärzt*innen werden sich die tatsächlichen Beweise nicht ansehen, wie wir es gerade getan haben. Und die Probleme, die wir bereits haben, zum Beispiel, dass Kinder ihren Eltern weggenommen werden, weil sie zu Unrecht des Kindesmissbrauchs bezichtigt werden, werden sich dadurch noch verschlimmern. Zusammenfassend befürchte ich also, dass dies eine Horrorshow für die Patient*innen sein wird, denn wenn sie mit diesem Papier Ärzt*innen aufsuchen, könnte diese/dieser bereits ihre/seine Gedanken geöffnet haben und denken, dass der/die Patient*in ein psychologisches Problem hat, und sich infolgedessen weigern, ihre/seine körperlichen Symptome zu behandeln, was gefährlich und schädlich ist.

Karina Sturm:

Was wünschen Sie sich in Bezug auf die Forschung zu EDS und psychischer Gesundheit?

Dr. Pradeep Chopra:

Zum einen sind Psychiater*innen herzlich eingeladen, Arbeiten zu veröffentlichen, aber im Allgemeinen sollten Arbeiten über komplexe multisystemische Erkrankungen wie EDS in Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten geschrieben werden, um mehr als eine Perspektive zu erhalten. Was ich damit sagen will, ist also: Natürlich können Menschen mit chronischen Erkrankungen, einschließlich EDS, potenziell auch psychiatrische Erkrankungen haben, aber man braucht ein multidisziplinäres Team, um eine psychische Erkrankung bei EDS zu diagnostizieren, weil man schlüssig beweisen muss, dass es keine andere Erklärung für die Symptome des Patient*innen gibt. Und bei Patient*innen mit EDS gibt es oft viele andere Erklärungen.

Zusammenfassung & Rat

Karina Sturm:

Es ist nicht neu, dass komplexe multisystemische Erkrankungen ohne klaren Ursprung als psychosomatisch eingestuft werden. Das passiert bei Menschen mit ME/CFS, EDS und jetzt auch bei Long-COVID. Hoffentlich werden wir bald eines der ursächlichen Gene für hEDS kennen, aber können Sie bis dahin noch einmal wiederholen, warum es für Sie klar ist, dass hEDS einen körperlichen Ursprung hat (und keinen psychologischen)?

Dr. Pradeep Chopra:

Das Bindegewebe heißt Bindegewebe, weil es alles im Körper miteinander verbindet. Alles im menschlichen Körper besteht zu einem gewissen Teil aus Bindegewebe. EDS betrifft also jeden einzelnen Zentimeter des Körpers: von der Haut, den Zähnen, dem Zahnfleisch, dem Herzen, der Lunge, dem Magen-Darm-System, der Blase, der Wirbelsäule, den Hüften, den Knien bis hin zu den Knöcheln – jedes Gelenk. Darüber hinaus neigen Menschen mit EDS dazu, andere komorbide Erkrankungen zu entwickeln, wie die Mastzellenaktivierung, die selbst eine multisystemische Erkrankung ist. Und es gibt noch viele andere komorbide Erkrankungen.

Karina Sturm:

Warum glauben Sie, dass manche Ärzt*innen uns so schnell mit psychischen Erkrankungen diagnostizieren?

Dr. Pradeep Chopra:

Gute Frage. Ich weiß, dass das ein häufiges Problem ist. Ich persönlich erwarte nicht, dass jede/jeder Ärzt*in über EDS Bescheid weiß. Genauso wie ich nicht viel über andere Krankheiten weiß, wissen sie vielleicht nicht viel über EDS. Wenn jedoch jemand mit unerklärlichen Symptomen in meine Praxis käme, würde ich diese untersuchen. Und wenn der/die Patient*in kommt und sagt: „Ich habe das Ehlers-Danlos-Syndrom“, und ich nicht wüsste, was das ist, würde ich es nachschlagen, darüber lesen und versuchen, es zu verstehen, damit ich nicht nur diesem/dieser Patient*in helfen kann, sondern auch dem/der nächsten, der/die kommt. Aber manche Ärzt*innen wollen sich nicht mit etwas befassen, mit dem sie nicht vertraut sind. In den USA ist eines der Hauptprobleme das Gesundheitssystem und wie es aufgebaut ist. Es ist nicht für medizinisch komplexe Fälle ausgelegt. Vielleicht bin ich ein lausiger Arzt, aber ich kann einfach kein medizinisches Problem in nur 15 Minuten behandeln, es sei denn, Sie kommen mit einer echten Schnittwunde an der Hand. Aber selbst das kann vielleicht sogar länger als 15 Minuten dauern. Ich gebe also nicht den Ärzt*innen die Schuld, sondern dem System.

Karina Sturm:

Was können oder sollten Patient*innen jetzt tun?

Dr. Pradeep Chopra: 

Wenn bei Ihnen EDS diagnostiziert wurde, sollten Sie sich mit EDS-Expert*innen in Ihrer Nähe in Verbindung setzen, damit Sie einen gut dokumentierten Untersuchungsbefund und Managementplan haben. Wenn Sie niemanden in Ihrer Nähe haben, sprechen Sie mit Ihrer Hausärztin oder Ihrem Hausarzt, um diese auf Ihrer Seite zu haben. Sie können sagen: „Ich erwarte nicht, dass Sie alle meine Probleme behandeln, aber es wäre schön, wenn Sie meine Beschwerden verstehen würden.“ Letztendlich ist es wichtig, die richtige Person zu finden, die Sie behandelt. Versuchen Sie auf dem Weg dorthin, so viele Ärzt*innen wie möglich zu informieren.

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Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung von Pradeep Chopra, MD und John Ferman, Präsident Chronic Pain Partners, die deutsche Fassung dieses Textes auf unserer Homepage veröffentlichen zu dürfen und bei Karina Sturm für Ihre Unterstützung beim Korrekturlesen.

 © Copyright Deutsche Ehlers-Danlos Initiative e. V./ ML

Logo von EDS Awareness (aka Chronic Pain Partners)
Logo der Deutschen Ehlers-Danlos Initiative e. V.

Die Originalversion im Englischen kann hier gelesen werden:

https://www.chronicpainpartners.com/18085-2/

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