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Ein Kongress, der Hoffnung schenkt –  Zahnmediziner-Kongress zum Thema: „Seltene Erkrankungen in der Zahn- Mund- und Kieferheilkunde“

von Karina Sturm. Angenehmes, blaues Stimmungslicht leuchtet uns den Weg in den ersten Stock der Kongresshalle im Herzen Münsters. Die Luft ist kalt und nur wenige abgehärtete Besucher stehen mit großen Erwartungen vor den Türen des ersten Kongresses der Zahnmedizin zum Thema: „Seltene Erkrankungen in der Zahn- Mund- und Kieferheilkunde“. Nervös zitternd warte ich vor dem Hotel auf Jürgen Grunert, der heute mit mir zusammen einen Vortrag über EDS und dessen zahnmedizinische Herausforderungen hält.

Schon als wir uns im Foyer einfinden, sind wir begeistert von der schlichten Eleganz des Raums, der mit Steh- und Sitztischen versehen, Platz für gemütliche Gespräche bietet. Außerdem finden wir eine Reihe von Informationsständen für die Selbsthilfegruppen vor, an denen wir Informationsmaterial  und Flyer auslegen dürfen. Daneben der Caterer, der die Gäste während der drei vorgesehenen Pausen verköstigt. Frau Ruthenschröer, die die Veranstaltung mitorganisierte, begrüßt die Besucher persönlich und vernetzt diese miteinander.

Neben allerhand Zahnmedizinern, befinden sich an dem kühlen Wochenende Ende November auch Selbsthilfegruppen und Wissenschaftler unter den Vortragenden. So bunt wie die Referenten ist auch das Publikum. Mit über 250 angemeldeten Teilnehmern sind die Erwartungen des Veranstalters Dr. Marcel Hanisch bei weitem übertroffen worden. Der engagierte Zahnmediziner ist Zusammen mit seinem Chef, Prof. Dr. Kleinheinz, das Herzstück des Kongresses und außerdem auch Initiator des ROMSE, einer Datenbank für seltene Erkrankungen mit zahnmedizinischer Beteiligung, die Zahnärzten bei der Behandlung von uns Seltenen helfen kann.

Bereits als wir den Konferenzraum betreten, bemerken wir die positive Stimmung und das Herzblut, das Herr Dr. Hanisch und Co. in diesen Tag investiert haben. Der Raum ist so eingeteilt, dass man selbst aus der letzten Reihe noch gut bis zum Podium sehen kann. Links und rechts vom Rednerpult befinden sich zwei riesige Leinwände und für die hinteren Reihen hängen außerdem große LCD-Monitore von der Decke, damit auch wirklich jeder den Vorträgen folgen kann.

Um 8.30 Uhr füllen sich die Reihen langsam, bevor um 8.45 Uhr die Veranstaltung von Prof. Dr. Kleinheinz eröffnet wird. Prof. Agnes Bloch-Zupan hält den ersten Vortrag über die Erbkrankheit Amelogenesis imperfecta, die zu Entwicklungsstörungen am Zahnschmelz führt. Wir erfahren, dass diese Erkrankung alleine oder in Kombination mit anderen Syndromen auftreten kann. Interessiert horchen wir auf, als beschrieben wird, dass auch Veränderungen auf dem COL17A1 gefunden wurden – einem Kollagen-Gen [1]. Mutationen auf diesem Gen können Epidermolysis bullosa auslösen. Betroffene haben eine extrem empfindliche Haut, die Blasen bildet [2]. Da auch viele EDS-Patienten Mutationen auf anderen Kollagen-Genen vorweisen können, finden wir diesen Zusammenhang besonders spannend. Auch dass diese engagierte Ärztin extra aus Frankreich angereist war und somit für ein internationales Publikum und einen englischsprachigen Vortrag sorgte, zeigte den Zuhörern wie professionell diese Veranstaltung war.

Im Anschluss folgten wir den Vorträgen von Univ.-Prof. Dr. med. dent. Ariane Hohoff über die kieferorthopädische Behandlung bei Patienten mit Kraniosynostosen, und Univ.-Prof. Dr. med. dent. Petra Scheutzel über die prothetischen Versorgungsstrategien bei Patienten mit seltenen Erkrankungen, bevor um 10.30 Uhr die Glocken zur ersten Pause läuteten.

Zügig geht es um 11 Uhr weiter mit einem ganz besonderen Vortrag von Univ.-Prof. Dr. med. dent. Jochen Jackowski zu orofazialen Veränderungen bei Kollagenosen. Kollagenosen sind Bindegewebserkrankungen mit einer autoimmunen Basis. Das heißt, das eigene Immunsystem greift körpereigene Zellen an [3]. Eine bekannte Kollagenose ist z. B. der systemische Lupus erythematodes, der unter anderem im Fokus des Vortrags steht. Natürlich horchen wir immer dann auf, wenn das Wort „Bindegewebe“ fällt, doch dieser Professor reißt nicht nur uns mit, sondern packt vom ersten Moment an das ganze Publikum. Immer wieder legt der sympathisch wirkende Professor mit dem Mittelscheitel die Hände aufs Pult, zieht seinen Oberkörper nach vorne, blickt die Zuschauer direkt an und betont, wie enorm wichtig der nächste Punkt für seine Kollegen ist. Wir denken uns nur: Student bei diesem Mann zu sein klingt einfach, denn eine Vorlesung dieses Mediziners kann nicht langweilig werden.

Er überrascht noch viel mehr, als er, den Kopf leicht nach unten neigend, über die Brille hinweg schaut und im Zuge einer Fallbeschreibung sagt: „Da habe ich einen Fehler begangen, weil ich es einfach nicht besser wusste!“ Damit gehören ihm die Sympathien der Betroffenen, genauso wie die Anerkennung der Kollegen. Er führt weiter aus, wie er seinen Fehler behoben und damit etwas dazugelernt hat. „Wo haben sich diese großartigen Ärzte nur so lange versteckt?“, frage ich Jürgen während des Vortrags.

Auch der anschließende Beitrag von Dr. med. dent. Marcel Hanisch zu seltenen Erkrankungen mit Manifestation im Zahn-, Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich ist von großer Bedeutung, denn ohne die Einladung von Herrn Dr. Hanisch wären wir an diesem Wochenende nicht in Münster und würden auch nicht in nur wenigen Stunden zum Ehlers-Danlos-Syndrom vortragen. Der junge Oberarzt erklärt uns nähere Details zum ROMSE und dessen Entwicklung und zeigt außerdem erste Fälle von seltenen Erkrankungen, die sich im neuen zahnmedizinischen Zentrum in Münster vorstellten. Beeindruckend war auch, woher all diese Menschen anreisten. Sogar aus dem Ausland fanden sich bereits verzweifelte Seltene bei Hanisch in der Sprechstunde ein. Für viele Patienten ist Münster die erste richtige Anlaufstelle, da andere Zahnärzte bislang die Behandlung verweigerten. Zweimal erwähnt er uns und unseren baldigen „großartigen Vortrag zu EDS“. Ob wir diesen Erwartungen gerecht werden?

Der letzte Vortrag vor der Mittagspause geht um das Thema „Vom Zahn zum ZNS – wie geht das?“ und wird vorgetragen von Univ.-Prof. Dr. med. Gerhard Kurlemann. Ich muss mich in mein Hotelzimmer verabschieden – die EDS-geplagten Gelenke wollen kurz abgelegt werden. Pünktlich zur Mittagspause warte ich dann aber im Foyer auf Jürgen. Ein Duft aus einer Mischung von Kaffee und leckeren warmen Gerichten liegt in der Luft. Während Jürgen entspannt sein Mittagessen zu sich nimmt, steigt meine Anspannung mit jeder Minute. Eine österreichische Zahnärztin findet den Weg zu uns und erzählt, sie sei nur wegen uns angereist und wäre sehr interessiert am Ehlers-Danlos-Syndrom. Was für eine Ehre für uns beide Nicht-Mediziner, vor all diesen lernbereiten und engagierten Menschen zu sprechen!

Um 13.30 ist es dann soweit. Wir werden verkabelt und positionierten uns in der Mitte der Bühne. Die Zuschauermenge hat sich etwas ausgedünnt, was Prof. Kleinheinz dazu bewegt uns zu versichern, dass es ganz normal sei, dass zur Mittagspause einige die Veranstaltung verließen. Wir sollten wissen, dass wir, oder besser unser Vortrag, nicht die Ursache für die Flucht mancher Teilnehmer waren. Auch merkt er meine Nervosität und versichert, dass alle sich wahnsinnig auf unseren Vortrag freuen. In der Moderation betonen Kleinheinz und Hanisch noch einmal deutlich, dass es ihnen wichtig ist, dass zu diesem Kongress eben nicht nur Ärzte als Sprecher eingeladen wurden, sondern auch die Perspektive der Patienten zu hören ist. Wir finden, dass das gar nicht selbstverständlich ist und freuen uns über diese Chance.

Jürgen eröffnet nach der Mittagspause gekonnt mit den Worten: „Und wir haben jetzt die Aufgabe, sie aus dem Mittagstief zu wecken“, und bricht damit das Eis. Wie ein geübter Moderator bewegt er sich auf der Bühne hin und her, deutet auf die Leinwand und involviert das Publikum, während er Informationen zu der neuen Klassifikation, den Hauptsymptomen des EDS und möglichen Komorbiditäten unterbringt. Er erzählt von der internationalen Konferenz, an der er teilnahm und hält stetig Augenkontakt mit dem Publikum. Auf die Folien muss er nicht schauen. Ich sitze daneben auf meinem Stuhl, der eine Ohnmacht verhindern soll, lausche gebannt und nur eines geht durch meinen Kopf: „Ach Mensch, bitte leg die Latte doch nicht ganz so hoch!“ Man merkt ihm an, dass er nicht zum ersten Mal vor so vielen Menschen spricht.

Und jetzt bin ich dran, den zweiten Teil der Präsentation vorzutragen. Die zahnmedizinischen Komplikationen bei EDS leite ich ein, mit einer wenig fachlichen, mehr persönlichen Frage an das Publikum: Was sehen Sie, wenn sie mich anschauen? Ich erläutere, dass die meisten Menschen sagen würden, dass ich aussehe wie eine gesunde, junge Frau. Denn die Symptome des EDS sind unsichtbar, was letztlich die Ursache dafür war, dass ich vier Jahre lang falsch diagnostiziert wurde. Ich wollte dahingehend überleiten, warum es so wichtig ist, dass auch Zahnärzte die Symptome kennen. Denn potentiell könnten auch diese die Ersten sein, die einen noch nicht diagnostizierten EDS-Patienten vor sich haben. Danach zitiere ich diverse Studien und Publikationen zum Thema und wir schließen mit einem Video von Dr. Mitakides, Spezialist für EDS und orale und mandibuläre Manifestationen. Dr. Mitakides rät den Zahnmedizinern dazu einfühlsam zu sein und gut zuzuhören, nachdem er einige der typischen Zahnprobleme zusammenfasst. Und damit kamen wir auch zum unbeliebten Teil eines jeden Vortrags: den Fragen aus dem Publikum. Ein Zahnmediziner stellt mir eine Frage, die letztlich von einer anderen Ärztin beantwortet wird. Den Höhepunkt unseres Vortrags liefert allerdings Frau Prof. Agnes Bloch-Zupan: „Insbesondere die Seltenen wissen so viel über ihre eigene Erkrankung. Wir, als Ärzte, können so viel von unseren Patienten lernen, doch nur wenn wir gut zuhören!“ Tosender Applaus und Zuspruch aus dem Publikum, aber vor allem von Betroffenen, folgt. Alleine dafür hat sich die monatelange Vorbereitung und die Aufregung gelohnt. Zu unserer Überraschung waren viele EDS-Betroffene angereist, um ihre Unterstützung zu zeigen und auch ein paar noch nicht diagnostizierte Fälle fanden den Weg an den Info-Stand. Sogar eine Mitarbeitern eines Zahnimplantatherstellers interessierte sich so sehr für das Thema, dass sie unseren Vortrag im Technikraum verfolgte und sprach uns auch im Anschluss großes Lob für den Vortrag aus.

Während ich es gerade noch schaffte, mit meinen hochhackigen Stiefeln ins Hotel zu gelangen, bevor mich die Schmerzen in die Knie zwangen, lauschte Jürgen den Vorträgen von Dr. med. Dipl.-Med. Axel Bohring zu Genetik und Hypodontie, gefolgt von  Dr. med. Christine Mundlos, Lotsin der Achse (Allianz chronischer seltener Erkrankungen), die über „Gemeinsam mehr erreichen – Europa und die seltenen Erkrankungen“ sprach. Ich hingegen verabreichte mir eine ordentliche Dosis Schmerzmittel, um pünktlich nach der zweiten Kaffeepause einem Vortrag von Katharina Heuing, M.Sc. zum NAMSE (Nationaler Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen) und dessen Umsetzung beizuwohnen. Die Diskussionen, die über den ganzen Tag sehr rege waren, entfachten nach der kritischen Frage, wer denn sicherstellte, dass auch für jede seltene Erkrankung ein Zentrum entstünde, noch einmal neu.

Die beiden letzten Vorträge von Dr. sc. hum. Holger Storf zum se-atlas (Medizinischer Versorgungsatlas für seltene Erkrankungen) und Herrn Bernd Hüsges über die Bedeutung von Selbsthilfegruppen für seltene Erkrankungen finden dann vor einer eher kleinen Gruppe Interessierter statt. Auch wir sind erschöpft und beenden den Tag. „Und jetzt gönnen wir uns noch ein Bierchen“, sagt Jürgen um 17 Uhr. Für ihn fängt das Wochenende aber gerade erst an, denn er reist heute noch weiter zur Vorstandssitzung der deutschen Ehlers-Danlos-Initiative e. V.

Bei einem Weißbier lassen wir den Tag Revue passieren. Ein zufriedenes Gefühl stellt sich bei uns beiden ein. Einmal, weil wieder über 200 Menschen etwas über EDS gehört haben, und außerdem auch, weil es scheint als würde sich etwas bewegen für die Seltenen. Münster betreibt nicht nur das erste zahnmedizinische Zentrum für seltene Erkrankungen, sondern plant auch noch diesen Kongress alle zwei Jahre stattfinden zu lassen. Es sollen sich auch dann wieder alle treffen: Patienten, Mediziner und Interessierte. Und genau das machte diesen Tag so besonders: Wir waren alle auf Augenhöhe und jede Stimme wurde gehört. Das ist es, wie man sich die medizinische Behandlung einer komplexen Erkrankung wie EDS vorstellt. Nun bleibt nur zu hoffen, dass diese engagierten Ärzte weiterhin für und mit uns Betroffenen arbeiten und uns auch in der Zukunft so viel Empathie entgegenbringen.

Quellenangaben:

[1] PRASAD, M. K., et al. Amelogenesis Imperfecta: 1 family, 2 phenotypes, and 2 mutated genes. Journal of dental research, 2016, 95. Jg., Nr. 13, S. 1457-1463.

[2] SMITH, Claire EL, et al. Amelogenesis imperfecta; genes, proteins, and pathways. Frontiers in physiology, 2017, 8. Jg., S. 435.

[3] PRIVETTE, Emily D.; WERTH, Victoria P. Update on pathogenesis and treatment of CLE. Current opinion in rheumatology, 2013, 25. Jg., Nr. 5, S. 584.

Dieser Text erschien im Magazin der Deutschen Ehlers-Danlos-Initiative e. V.

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