Unsichtbare versus sichtbare Behinderungen – Teil 2: Die Unterschiede
Von Karina Sturm.
In meinem letzten Beitrag habe ich euch von meinen Abenteuern mit meiner Freundin Caitlin erzählt, die mit einer sichtbaren Behinderung lebt. Sie ist seit ihrer Geburt blind. Ich hingegen lebe mit einer unsichtbaren Behinderung, ausgelöst durch mehrere chronische Erkrankungen, die mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom einhergehen. Einiges in unseren Leben ähnelt sich. Wir beide erfahren viel Ignoranz in Bezug auf unsere Behinderungen. Heute erzähle ich euch von den Alltagssituation, die für uns beide völlig entgegengesetzt verlaufen – abhängig davon, was unsere Mitmenschen für ein Verständnis von ‚Behinderung‘ haben.
Moses, teil’ das Meer.
Eine Situation, die mich immer wieder zum Staunen bringt, entsteht, wenn Caitlin und ich zusammen spazieren gehen. Caitlin nutzt einen Langstock, der in auffälligen Regenbogenfarben erstrahlt und hängt sich normal zusätzlich mit dem anderen Arm bei mir ein. So laufen wir die Straße entlang und lachen dabei viel. Oft beschreibe ich ihr, was ich gerade alles sehe und meistens habe ich das Gefühl, vieles zu übersehen. Egal wie viele Menschen auf der Straße unterwegs sind, sie alle bewegen sich hektisch zur Seite, auch wenn ich mit Caitlin noch viele Meter entfernt bin. Caitlin kann mit ihrer Anwesenheit Menschenmengen teilen. Letztens sind wir wie so oft nach unserem “Grilled Cheese”-Date – Caitlin und ich lieben Kinderessen, wie gegrillte Käsesandwiches – zum Cookie-Geschäft gelaufen und ein junger Mann mit blonden Haaren, der uns entgegen kam, ist im vorbeigehen kurz hoch gesprungen, als ob er über Caitlins Langstock hüpfen wollte. Der war allerdings in sicherer Distanz ca. zwei Meter weit von ihm entfernt. Caitlin meinte das passiere häufiger.
Anrempeln und anmotzen.
Das läuft ganz anders, wenn ich mit meiner unsichtbaren Behinderung durch Menschenmengen laufe – selbst wenn ich dabei eine Halskrause trage und damit mein Hilfsmittel klar zeige. Niemand nimmt Rücksicht auf mich. Keiner entschuldigt sich, wenn er mich anrempelt. Manchmal werde ich sogar angemotzt, wenn ich im Schreck vor Schmerz aufschreie. Kleine Erschütterungen können meine Wirbelsäule für Wochen aus dem Lot bringen. Das hat oft starke Schmerzen und neurologische Ausfälle zur Folge. Die meisten Menschen, die ich im Alltag treffe, verbinden nicht einmal mit einer Halskrause eine Art von Problem. Mit Caitlin spazieren zu gehen ist daher für mich die beste und sicherste Art mich fortzubewegen.
Ein Sitz für dich.
Fahren wir mit der U-Bahn, was selten der Fall ist, bieten unzählige Passagiere Caitlin einen Platz an. Sie sitzt aber eigentlich nicht gerne, sondern steht normal direkt bei der Tür, um schnell den Ausgang zu finden, wenn die Bahn anhält. Lehnt sie das Angebot eines Sitzplatzes ab, ist das Gespräch aber noch lange nicht vorbei, denn der Passagier meint besser zu wissen, was gut für Caitlin ist und nötigt sie förmlich die Behindertenplätze zu nutzen. Dass sie ein Mensch ist, der selbst Entscheidungen treffen kann, das vergessen die meisten unserer Mitmenschen. Sie meinen, wenn sie Hilfe anbieten – egal in welcher Form – hat der behinderte Mensch das dankbar anzunehmen ohne Gegenwehr zu leisten. Dabei ist egal, ob der Mensch mit Behinderung vielleicht selbst besser weiß, was für sie oder ihn gut ist. Wenn Caitlin diese gut gemeinten Angebote ablehnt und vielleicht sogar leicht irritiert reagiert, weil sie dutzende Male wiederholen muss, dass sie wirklich nicht sitzen möchte, werden unsere Mitmenschen oft wütend.
Kein Sitz für mich.
Selbe Situation, völlig anderer Ausgang. Für mich steht in der U-Bahn keiner auf. Halskrause oder Bandagen machen da meist keinen Unterschied. Ich bin trotzdem jung und sehe gesund aus. Wenn ich einen Sitz ergattere, werde ich häufig aufgefordert für andere aufzustehen. Nein zu sagen, fällt mir dabei schwer. Schließlich sieht niemand, dass ich wirklich krank. Um verletzende Kommentare zu vermeiden, weiche ich Konfrontationen aus.
So inspirierend.
Wenn Caitlin einen Schritt vor ihre Haustüre macht, finden die Menschen das ‘inspirierend‘. Dass sie einen ganz normalen Alltag lebt, Vollzeit arbeitet und danach Freunde trifft, ist für viele ein Wunder. Den kurzen Film, den ich über sie gemacht habe, hat ein Mann kommentiert mit: “Das ist so wagemutig. Wenn ich blind wäre, würde ich mein Haus nie verlassen.” Ein anderer schreibt: “So ein talentiertes Mädchen – trotz ihrer Blindheit.” Und die meisten Menschen verstehen nicht, warum diese Kommentare so daneben sind. Menschen mit Behinderung sind nicht inspirierend dafür, dass sie am normalen Leben teilnehmen und sie sind genauso talentiert oder nicht talentiert wie jeder andere Mensch eben auch.
Du bist faul.
In meinem Fall ist die Situation genau andersherum. Mir glauben die Menschen oft nicht, dass ich wirklich krank bin, weil ich an einem Tag gehe und am nächsten einen Rollstuhl nutze. Oder weil ich einen Schnappschuss einer Feier poste – eine Momentaufnahme eines glücklichen Tages. Oder schlichtweg weil ich in der Öffentlichkeit gesehen werde und unsere Mitmenschen davon ausgehen, dass wir Kranken dauerhaft leidend auf dem Sofa zu liegen haben. Generell können wir es selten recht machen. Sehen wir aus wie der Tod, wird uns von unserem Umfeld eingeredet, wir dürften uns nicht so hängen lassen. Gehen wir gut gestylt aus dem Haus, haben wir unsere Erkrankung von Anfang an nur vorgespielt. Diese Vorurteile sind, wie ich finde, recht spezifisch für unsichtbare Erkrankungen und Behinderungen.
Gerade weil unsere Behinderungen so unterschiedlichen sind, sind Caitlin und ich ein gutes Team. Vor allem mein Alltag ist in vielen Situation einfacher, wenn wir zusammen unterwegs sind – ganz davon abgesehen, wie bereichernd es ist, sich über diese Unterschiede auszutauschen und besser zu verstehen, welche Herausforderungen Menschen mit anderen Behinderungen haben und wie wir alle respektvoll miteinander umgehen können.
(Dieser Blogpost wurde mit Caitlins Einverständnis erstellt)
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