Unsichtbare versus sichtbare Behinderungen – Teil 1: Taxi- und Uberfahrer
Von Karina Sturm.
Meine Freundin Caitlin ist blind und lebt daher mit einer relativ sichtbaren Behinderung. Ich habe EDS, das Ehlers-Danlos-Syndrom, das größtenteils unsichtbar für unsere Mitmenschen ist. In meinem Blog möchte ich anhand Caitlins und meiner gemeinsamen Erlebnisse über die Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten, zwischen unsichtbaren und sichtbaren Behinderungen sprechen.
Neue Perspektiven: Freunde mit diversen Behinderungen.
Durch meine Schreiberei und meine Arbeit für Journalisten mit Behinderungen und Magazine von und für behinderte Menschen hat sich meine Perspektive zum Thema unsichtbare versus sichtbare Behinderungen deutlich erweitert. Mittlerweile habe ich Bekannte und Freunde mit verschiedensten Behinderungen: Einige, die wie ich mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom leben, aber auch andere, deren Behinderung nicht durch eine chronische Erkrankung ausgelöst wurde.
Sichtbare Behinderung: Blindheit.
Eine meiner liebsten Freundinnen in meiner amerikanischen Heimat ist seit ihrer Geburt blind. Mit blinden Menschen hatte ich vorher noch keine großen Berührungspunkte, weshalb ich anfangs besorgt war, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Ich erinnere mich an einen äußerst peinlichen Vorfall aus meiner Zeit als Arzthelferin. Ich war rund 18 Jahre alt. Damals begleitete ich eine ältere, blinde Dame zur Toilette und als sie die Tür schloss, rief ich ihr hinterher, ob ich nicht das Licht anschalten solle, sonst würde sie ja gar nichts sehen. Dieser offensichtlich dämliche Kommentar kam mir sofort wieder ins Bewusstsein, als ich mich zum ersten Mal mit Caitlin, meiner heute guten Freundin, traf.
Eigene Ignoranz anderer Behinderungen.
Was mir nie in den Sinn kam war, dass sie gleichermaßen unsicher war, weil sie kaum Menschen mit unsichtbaren Krankheiten und Behinderungen kannte und ebenso wenig wusste, wie sie mit mir umgehen sollte. Unsere Bedenken waren jedoch völlig unbegründet, denn obwohl wir beide mit unterschiedlichen Behinderungen leben, fanden wir schon in den ersten fünf Minuten viele Gemeinsamkeiten – vor allem in Bezug auf die Ignoranz unseres Umfelds von verschiedenen Aspekten unseres Lebens.
Und jedes Mal wenn wir uns treffen, geraten wir wegen unserer Behinderungen in überraschende Situationen. Von ein paar dieser Erlebnisse, möchte ich euch heute erzählen.
Caitlin und ich fahren oft mit Uber.
Uber ist ein Ridesharing-Service, ähnlich wie ein Taxi, nur billiger. Caitlin nutzt Uber, da sie ungern mit vielen Menschen in der U-Bahn steht, und ich, weil ich generell nur schlecht lange U-Bahn-Fahrten überstehe und meine Energie so einteile, dass ich mehr Zeit mit meinen Freunden habe und weniger Zeit an die Anreise verschwende.
Bevorzugt fahren wir zusammen.
Da ich außerhalb der Stadt wohne, liegt für mich fast alles auf dem Weg. Deshalb hole ich Caitlin meistens ab und wir fahren gemeinsam zum Café oder Restaurant. Das handhaben wir seit Jahren so, weil es für uns beide angenehm ist, in dieser großen Stadt nie alleine herumzustehen und aufeinander warten zu müssen.
Wie die meisten Menschen, wissen auch unsere Uber-Fahrer nichts mit Behinderten anzufangen.
Eine Situation, die uns beide in Gelächter ausbrechen ließ, ereignete sich vor ein paar Monaten. Wir stehen an unserem gewöhnlichen Abholpunkt in der Nähe unseres Lieblingsrestaurants. Strategisch klug wählen wir aus, wann und wo wir uns einsammeln lassen, sodass es für die Fahrer einfach ist anzuhalten und für uns risikoarm dort zu stehen. Wenige Minuten später bekommt Caitlin einen Anruf. Der Fahrer. “Ich stehe bei der Tankstelle. Kannst du mir entgegenkommen”, fragt er. “Ich bin blind. Wenn möglich, hol’ uns bitte am vereinbarte Treffpunkt ab”, antwortet Caitlin. Was dann folgt, lässt uns beide in Lachen ausbrechen. “Aber man hört ja gar nicht, dass du blind bist”, reagiert unser Fahrer.
Andere Situation sind nicht lustig, sondern verletzend.
Als wir vor ein paar Wochen nach Hause fuhren und ich Caitlin zur Tür begleitete, während der Fahrer auf mich warten musste, kam es zu einer Situation, die mich heute noch wütend macht, wenn ich daran denke. Caitlin wohnt in einer Gegend, in der Parken schwierig ist und in der man auch nicht immer unbedingt die nettesten Menschen auf der Straße findet. Daher begleite ich sie oft vom Auto zur Haustüre und anders herum. Als ich unserem Fahrer erklärte, dass ich nun kurz rausspringen würde, aber in einer Minute wieder zurück sein würde, war er schon sichtlich genervt (Augenrollen). In weniger als einer Minute war ich zurück und wir machten uns auf zum zweiten Stop: Meine Wohnung. Der Mitte-30-jährige Mann, mit den langen Haaren, die zu einem Zopf gebunden sind und den Tattoos im Nacken, drückt aggressiv aufs Gas.
Dann wirft er den Kommentar in den Raum: “Und für sowas ist die Trinkgeldfunktion in der App da.“ Erst ist mir unklar, was er genau meint. Hat er gerade etwas Außergewöhnliches gemacht, was ich verpasst habe? Unwissend frage ich, was er damit ausdrücken will. Er sagt: “Special Needs gehören nicht zu seinem Job.”
Und wer denkt, solche Kommentare wären eine Ausnahme, der täuscht sich ordentlich. Sie sind für uns eher die Regel.
Menschen mit Behinderungen haben keine Freunde.
Anderer Fahrer, ähnliche Situation. Ich mache mich auf den Weg zu Caitlin. Diesmal um sie abzuholen. Damit der Fahrer weiß, wie unsere Routine abläuft, erkläre ich ihm, dass wir Caitlin abholen, sie blind ist und ich daher kurz aus dem Auto springe und sie an ihrer Haustüre empfange. Plötzlich fängt sein Gesicht an zu strahlen und ich habe das Gefühl, gleich bekomme ich eine Medaille verliehen. Offenbar macht mich diese simple Handlung zur Heiligen, denn er sagt: “Sie kann aber wirklich froh sein, dich zu haben.” Erneut Erst verstehe ich nicht ganz, was er meint. Für mich ist selbstverständlich, dass ich meine Freunde unterstütze – behindert oder nicht. Hätte er an dem Punkt aufgehört zu reden, wäre die Welt noch in Ordnung gewesen. Doch das tut er nicht. Er erzählt mir, dass Leute mit so schweren Einschränkungen ganz viel Hilfe brauchen und dass es schon was Besonderes ist, dass sich dann wer kümmert. Die wären ja sonst völlig aufgeschmissen ohne so großzügige Menschen wie uns – jetzt spricht er nicht mehr nur von mir, sondern auch von sich selbst.
Solche Erlebnisse haben wir fast jedes Mal, wenn wir uns treffen.
Ich bin immer wieder verblüfft über die Unwissenheit der Menschen, die einen Teil unsere täglichen Lebens begleiten. Da gibt es den Mann, der überrascht ist, dass man Blindheit nicht am Telefon hören kann, oder den unfreundlichen Fahrer, der meint, er verdiene eine Auszeichnung dafür, dass er ein im Ansatz anständiger Mensch ist und eine junge Frau zur Tür begleitet, bzw. zumindest wartet, während ich diesen Job übernehme, bis hin zum Fahrer, der glaubt Menschen mit Behinderungen haben keine Freunde sondern ausschließlich Pfleger, die ohnehin alle Heilige sind, weil sie sich mit Leuten abgeben, die eine Behinderung haben.
In all diesen Situation habe ich versucht mehr Verständnis zu erzeugen.
Denn meine Freundschaft mit Caitlin ist für mich auf so vielen Ebenen so bereichernd, dass ich schnell wütend werde, wenn unsere Mitmenschen so respektlos mit uns umgehen. Den Fahrer der meinte Blindheit könne man hören, habe ich gefragt, wie sich blinde Menschen denn am Telefon von Sehenden unterscheiden und eine relativ gute Diskussion zum Thema Behinderung entstand. Unseren “Special-Needs-gehören-nicht-zu-seinem-Job“-Fahrer habe ich darüber aufgeklärt, dass er sogar dazu verpflichtet ist, sich um “Leute wie uns” zu kümmern, denn ansonsten würde er die hiesigen Gesetze in Bezug auf Menschen mit Behinderungen nicht einhalten und das könnte ihn seinen Job kosten. Ich habe ihn außerdem gemeldet, sodass er ein zusätzliches ‚Disability Training‘ bekommt. Trinkgeld gebe ich tatsächlich immer, wenn jemand freundlich zu uns ist. In seinem Fall habe ich das dann aber nicht eingesehen. Und meinem “Du-bist-ein-Engel”-Fahrer habe ich erklärt, dass Caitlin so viel mehr für mich tut, als ich jemals für sie machen könnte und dass unsere Freundschaft genauso funktioniert, wie jede andere eben auch. Man gibt, man nimmt und versucht für sein Gegenüber da zu sein. Ganz oft hat das mit Behinderung überhaupt nichts zu tun. Denn ob unsere Mitmenschen das glauben oder nicht, wir Menschen mit Behinderungen haben tatsächlich auch Liebeskummer, Stress in der Arbeit, kleine Wehwehchen, oder was auch immer unsere nicht behinderten Mitmenschen so durchleben.
Ob meine Erklärungen was gebracht haben, weiß ich nicht. Ich hoffe jedoch, das jede Stimme zählt und das zumindest einer dieser drei Menschen etwas gelernt hat.
In Teil 2 dieser Reihe möchte ich euch erzählen, wie unterschiedlich ein und die selbe Alltagserfahrung ist, wenn zwei Menschen – eine mit einer unsichtbaren Behinderung, die andere mit einer sichtbaren Behinderung – gemeinsam unterwegs sind.
(Dieser Artikel inklusive des Fotos wurde mit dem Einverständnis von Caitlin erstellt.)
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